Autonomie!

Auch ein Zweijähriger kann seine Wäsche selbst waschen.

Kaum eine Entwicklungsphase der Kinder, von der Pubertät vielleicht einmal abgesehen, ist mehr verschrien. Trotzalter, Trotzphase, terrible two, Wutjahre… es gibt so viele Bezeichnungen für die Zeit zwischen dem zweiten und vierten Geburtstag. Fast immer sind es wertende, negative Begriffe, die das in Worte fassen, was viele Eltern während dieser Jahre fühlen: eigene Wut und Ohnmacht, Scham (wenn Wutanfälle in der Öffentlichkeit auftreten) und Ratlosigkeit. Regelmäßig fragen sich Eltern angesichts ihrer sich auf dem Boden werfenden, schreienden, tobenden und vor Wut tretenden Kinder, was sie nur falsch machen in der Erziehung. Sie wollen wissen, wie man das abstellen kann, wie das Kind wieder normal wird und macht, was es soll.

Im besten Falle haken Eltern das Ganze getreu dem Motto „das MUSS so“ als Trotzalter ab. Im schlechteren Fall machen sie das Kind für sein Fehlverhalten verantwortlich. Kaum einer fragt, warum Kinder in diesem Alter so oft toben und schreien, was die Wut in ihnen auslöst.

Dabei ist ein Perspektivwechsel wirklich lohnenswert!

Die Entdeckung des „Ichs“

Das Kind ist nicht falsch! Der sogenannte Trotz ist Symptom eines wichtigen Entwicklungsschrittes. Mittlerweile spricht man daher nicht von der Trotz-, sondern von einer Autonomiephase des Kindes.

Die Kinder beginnen „ich“ zu sagen, eigene Pläne zu entwickeln und sich aktiv mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Sie erleben sich als eigenständige Person, mit eigenem Willen und erfahren, dass ihren Plänen häufig Grenzen gesetzt werden. Das schafft Frust!

Auch ein Zweijähriger kann seine Wäsche selbst waschen.

Auch ein Zweijähriger kann seine Wäsche selbst waschen.

Eltern erleben die Beharrlichkeit ihrer Kinder beispielsweise beim Laufenlernen als etwas Positives. Sie fiebern freudestrahlend mit, wenn ihr Kind hinfällt, aufsteht, ein paar Schritte geht, um nach der nächsten Bruchlandung wieder erneut loszulegen. Das Kind während der Trotzphase agiert auch nicht anders. Unermüdlich übt es und lernt, seine Ziele zu erreichen und sich im Spannungsfeld zur Umwelt zu erleben. Nur ist das eben nicht niedlich oder süß, sondern häufig kräfteraubend und anstrengend. Viele Eltern sagen, dass sie kaum etwas mehr an die eigenen Grenzen bringt, als ein trotzendes Kind.

Das ist verständlich. Auch ich kenne das hilflose Gefühl, neben einem tobenden Zweijährigen zu stehen und nicht zu wissen, wie ich uns beiden aus dieser Situation heraus helfen kann.

„Ich kann das!“

Und trotzdem (ja, TROTZDEM!) liebe ich genau dieses Alter so sehr. Klingt verrückt?

Hier der Versuch einer Erklärung:

Ich sehe die „terrible two“ in erster Linie als sehr unterhaltsames Alter. Es ist eine so spannende Phase! Okay, mitunter auch ganz anstrengend und manchmal (für alle Beteiligten!) frustrierend. Oft auch zu laut für meinen Geschmack. Die Kinder sind in diesem Alter aber so kurios, haben oft völlig verquere, aber total spannende Ideen. Die Sprachentwicklung explodiert. Aus den Einwortsätzen werden plötzlich die ersten Dreiwortsätze (in unserem Fall: “Mehr Keks haben!“, gefolgt von: „Ey, meiner!“). Plötzlich haben die Eltern mehr als nur den Hauch einer Ahnung, was in den Köpfen ihrer Kinder passiert. Eine Offenbarung! Und ein wahrer Schatz an all den spannenden Plänen, Ideen und Überlegungen (letztens beim Wickeln, die Frage: „Hat Darth Vader einen Hintern???“) teilhaben zu dürfen.

Die „Trotzphase“ erlebe ich als sehr wuseliges Alter, in dem die Kleinkinder sehr geschäftig und ernsthaft ihren Aufgaben nachkommen.

Genau da setzt für mich auch der Umgang mit meinem Zweijährigen an.

Er ist kein kleiner Querulant, sondern ein Kleinkind während eines wichtigen Entwicklungsschritts hin zum selbständig denkenden und eigenständig handelnden Menschen.

Er nimmt das ernst, was er tut – auch, wenn vieles auf den ersten Blick vielleicht unverständlich und willkürlich scheint. Der wichtigste Satz unseres Kleinkindmannes ist aktuell „Ich auch!“. Ja, mit Ausrufezeichen hintendran! 😉 Er will kein stiller Beobachter mehr sein, kein kleiner Zaungast, der seinen Eltern staunend über die Schulter guckt. Er will mitmachen. „Ich kann das!“ ist eine seiner Grundüberzeugungen.

Einfach mal machen lassen

Also braucht er einen Rahmen, in dem er tätig werden kann. Nicht als Kinderbespaßungsmaßnahme, das würde er nicht ernst nehmen können, sondern in unserem Alltag. Der Zweijährige deckt den Tisch – auch, wenn das Ergebnis manchmal sehr kreativ ist. Er rührt Kuchenteig und schneidet Obst, er öffnet Milchtüten und schenkt sich ein. Selbstverständlich räumt der Kleinkindmensch mit uns die Spülmaschine aus oder trägt seinen Teller nach dem Essen in die Küche. Er versucht, alleine die Schuhe an- oder Jacken auszuziehen. Das klappt nicht immer. Unser Sohn möchte aber selbst herausfinden, ob und was im Rahmen seiner Möglichkeiten liegt.

Unser Kleinkindsohn erlebt sich so als wichtiges Mitglied der Familie. Er trägt aktiv dazu bei, dass unser Alltag gelingt. Er ist – zumindest ein Stück weit – autonom und sorgt für sich. Nebenbei hat er nicht nur die Möglichkeit, seine Feinmotorik zu trainieren, sondern vor allem herauszufinden, wo seine persönlichen Grenzen liegen.

Einfach mal machen lassen ist meine Devise in diesem Alter. Zweijährige werden im Alltag viel zu oft ausgebremst. Das muss nicht sein! Warum sollte ein Kleinkind (unter Aufsicht!) keine Gurken schneiden können? Was hindert uns im Alltag daran, unsere Kinder wenigstens einmal versuchen zu lassen, ob sie selbständig eine Jacke anziehen oder sich ein Butterbrot schmieren können? Sicher, das Ganze kostet Zeit und Geduld. Aber mal unter uns: ein Wutanfall eines Zweijährigen, der viel zu oft am Tag ein „nein“ um die Ohren gehauen bekommt, ist auch nicht wirklich ressourcenschonender.

...wenn Zweijährige den Tisch decken.

…wenn Zweijährige den Tisch decken.

Natürlich gibt es trotzdem Wutanfälle: weil das falsche Essen auf dem Teller liegt oder der Reißverschluss nicht zu gehen will. Weil es regnet oder die Mutter einmal ohne Kleinkindbegleitung mit dem Hund spazieren gehen mag. Weil der Knirps hungrig oder müde ist und dann die Welt sowieso ein wenig anstrengend.

Nicht jeden Wutanfall kann man verhindern. Nicht jede Frustration muss man im Vorfeld aus dem Weg räumen. Ich halte es für durchaus zumutbar und auch für gesund, dass ein Zwei- oder Dreijähriger auch mit den Grenzen und Bedürfnissen anderer Familienmitglieder konfrontiert wird. In einer Großfamilie wie bei uns, lässt sich das sowieso nicht vermeiden.

Grenzen um der Grenzen willen???

Nur davon, dem Kind bewusst und regelmäßig Grenzen aufzuzeigen, damit es lernt, dass „ein Nein auch ein Nein ist“ – davon halte ich nichts. Ich muss nicht willkürlich Grenzen schaffen, damit mein Kind lernt, auch mit Frustration umzugehen. Ein Kleinkind stößt naturgemäß an Grenzen: seine eigenen (weil die Motorik oder der Wortschatz eben doch noch ausbaufähig sind) und die der Mitmenschen (weil ich eben doch nicht immer Lust habe, sieben mal hintereinander Henriette Bimmelbahn vorzulesen oder die großen Geschwister ohne Kleinkind spielen wollen). Er stößt an naturgegebene Grenzen (Schwerkraft oder das Wetter) und manchmal sind es einfach Missverständnisse, die da Grenzen schaffen, wo eigentlich gar keine sein müssten. Frust gehört zu Großwerden also automatisch mit dazu. Wir müssen als Eltern nicht auch noch für eine Extraportion Frust sorgen, das tun wir unbewusst sowieso: weil wir müde sind oder hungrig und nicht immer in der Lage oder willens, um die Ecke zu denken oder Stolpersteine schon im Vorfeld zu erkennen. Das Trotzalter ist nämlich keine Einbahnstraße.

Das schöne an Kindern in der Autonomiephase ist aber, dass sie eine authentische Rückmeldung geben, wenn wir ihre Grenzen übertreten oder ihnen Dinge abnehmen, die sie schon selbst tun können oder wollen. Wenn wir offen und interessiert auf unsere Kinder blicken, können wir von ihnen lernen.

Gestern zum Beispiel wollten der Kleinkindmann und ich Obstgarten spielen. Da der Tisch noch voller Krümel war, wollte ich ihn vorher abwischen. Der Kleine bekam die Aufgabe, den nassen Tisch abzutrocknen. Nun waren die Kleinkindhände aber langsamer als gedacht und der halbe Tisch noch feucht. Ungeduldig nahm ich meinem Sohn das Geschirrtuch aus der Hand und trocknete selbst: „Ich auch!!!“ kam prompt und unmissverständlich laut die Rückmeldung. Glücklicherweise war ich in der Lage, meinen Fehler zu erkennen und das Handtuch an mein Kind zurückzugeben.

 

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