Das Schweigen brechen

Das Schweigen brechen - weil Gewalt gegen Frauen keine Privatsache ist!

 

Kathi verliebt sich nicht in einen Schläger. Die Tragödie ihres Lebens beginnt mit einem liebenswerten und freundlichen Mann, der großen Liebe eben. Gut, Achim ist nicht nur emotionaler, sondern auch besitzergreifender als andere Männer. Schon nach wenigen Wochen will er sie heiraten. Und erklärt Kathi und die Beziehung zu ihr zum Mittelpunkt seines Lebens. Den Heiratsantrag lehnt Kathi vorerst ab – zum Lebensmittelpunkt lässt sie sich trotzdem machen. Sie fühlt sich verantwortlich für diesen Mann, der ihr sein Herz schenkt und ohne sie so hilflos wirkt. Immer mehr Raum nimmt die Beziehung nun ein – während Kathis persönliche Freiheit immer kleiner wird.

Sie merkt das durchaus – und bleibt dennoch. Trotz Kontrolle und nervenaufreibender Dramen, trotz Demütigungen und Achims „Nervenzusammenbrüchen“, die immer häufiger kommen, wenn Kathi ihm nicht die notwendige Aufmerksamkeit gibt. Diese emotionale Gewalt hält Kathi aus. Und hofft, dass es besser wird. Irgendwann… wenn sie Achim nur deutlicher zeigen kann, wie sehr sie ihn liebt.

Das Schweigen brechen – weil Gewalt gegen Frauen keine Privatsache ist!

Kathi beginnt, ihr Studium zu vernachlässigen, weil Achim ihr regelmäßig mit Selbstmord droht, wenn sie ihn zu lange alleine lässt. Den Kontakt mit Freunden und ihrer Familie bricht sie aus diesem Grund ganz ab.

Irgendwann bleibt es dann nicht mehr „nur“ bei emotionaler Gewalt. Irgendwann fängt Achim an, auch körperliche Gewalt zu nutzen. Wann genau diese beginnt, kann Kathi heute nicht mehr sagen. Vieles ist verdrängt oder zugedeckt unter einer Wolke des Vergessens.

Jahre später erfährt Kathi, dass es vielen Frauen so geht. Und das Ganze ein Überlebensmechanismus ist. Weil es nur so möglich ist, weiter zu bleiben, die Gewalt auszuhalten – und dennoch zu funktionieren.

 

Gehen wollen – und trotzdem bleiben

 

Genau das tut Kathi. Sie bleibt. Trotz Übergriffen während der Schwangerschaft mit dem zweiten Kind. Trotz Tritten in den Unterleib unmittelbar nach dessen Geburt. Immer häufiger kommt es nun während Auseinandersetzungen zu Gewalt.

Kathi wird bedroht und gedemütigt. Regelmäßig nimmt Achim ihr Handy und Geldbeutel ab, um Kathi am Gehen zu hindern. Dass im Kleiderschrank versteckt eine Notfalltasche schlummert, weiß er nicht. Doch diese Tasche kommt nie zum Einsatz.

Kathi bleibt bei ihrem Mann, aus verschiedenen Gründen. Ein mal, weil sich die Situation zu Hause nach den Übergriffen schlagartig entspannt. Und das Gehen für die geschwächte Frau weit schwieriger scheint, als das Bleiben. Außerdem fühlt sich Kathi verantwortlich für ihren Mann, der neben ihr und den Kindern niemanden hat im Leben. Und schuldig. Denn Achim lässt sie glauben, dass sie selbst Verantwortung trägt für seine Ausbrüche. Dass sie es in der Hand hat, sein Verhalten zu ändern. Und er nicht so ausrasten müsste, wenn sie ein Stück mehr „normaler“ sei oder „verständnisvoller“.

Nach jedem neuen Angriff schwindet ein Stück Selbstachtung – weil Kathi trotz allem genau weiß, was der richtige Weg wäre. Und sie sich etwas vormacht, vor allem aus Angst.

Denn Angst ist für Kathi der Hauptgrund zu bleiben. Sie hat wahnsinnige Angst vor ihrem Mann. Nicht nur dann, wenn sich seine Stimme und sein Blick verändern und er sich wie ein wildes Tier auf sie stürzt. Angst hat sie vor allem davor, was passieren wird, wenn sie ihren Mann verlässt. Achim macht ihr mehr als deutlich, dass sie ihr Leben in Gefahr bringt, wenn sie geht. Kathi nimmt ihn in diesem Punkt sehr ernst. Zu recht, wie sie später erfährt. Die meisten Übergriffe auf Frauen passieren während oder nach Trennungssituationen.

 

Schweigen und funktionieren

 

Über das Erlebte redet Kathi mit keinem, nicht einmal mit ihren besten Freunden – brüstet sich Achim doch damit, so klug zu sein und keine Spuren zu hinterlassen. Niemand würde ihr glauben, betont er. Nach außen hin scheint Achim ein netter und fürsorglicher Mann zu sein. Kathi versucht also weiter, das Bild der glücklichen Familie zu verkaufen. Und ihren Kindern ein möglichst „normales“ Leben zu ermöglichen.

Kathi ist eine kluge und gebildete Frau. Rational weiß sie, dass sie trotz ihrer Angst gehen und sich in Sicherheit bringen muss. Trotzdem deckt sie ihrem Mann. Sie glaubt an ihre „Mitschuld“. Und übernimmt Verantwortung für etwas, das sie nicht zu verantworten hat. Kathi geht Konflikten mit Achim aus dem Weg. Sie versucht alles „richtig“ zu machen. Vor allem aber versucht sie, ihre Kinder aus der Schusslinie zu bringen, die von der Gewalt gegen ihre Mutter möglichst wenig mitbekommen sollen. Das klappt oft, aber nicht immer. Kathi schwört sich, dass sie ihren Mann verlässt, sollte er noch ein einziges mal vor den Kindern gewalttätig werden.

Dieses eine Mal kommt. Achim versucht im Streit, seine Frau zu erwürgen. Beide Kinder sind dabei anwesend. Kathi überlebt diesen Angriff. Die Würgemale am Hals überdeckt sie in der kommenden Zeit mit einem Rollkragenpullover. Sie versöhnt sich mit Achim – um von langer Hand geplant einen möglichst friedlichen Auszug und eine Trennung zu planen. Beides glückt ihr.

 

Aktiv werden, endlich!

 

Erst Monate später erkennt Kathi, was sie während ihrer Ehe erlebt hat. Erst mit ausreichend zeitlichem und räumlichem Abstand kommen Erinnerungen und Gefühle in ihr hoch, die sie überwältigen. Neben Herzrasen und Schlafstörungen wird sie regelmäßig von Flashbacks und Ängsten heimgesucht. Ihr wird klar, wie wenig das alles mit einer „normalen“ Ehe zu tun hat und auch, dass sie dringend Hilfe braucht, um mit dem Erlebten leben zu lernen.

Kathi sucht nicht nur für ihre Tochter Unterstützung, sondern vor allem auch für sich selbst. Der Anruf bei einem Hilfetelefon führt sie zu einer Beratungsstelle und schließlich zu einer geeigneten Therapeutin, die Kathi viele Monate auf ihrem Weg begleitet. In einer Therapie lernt sie, mit ihren Symptomen umzugehen, die sich unter der Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) zusammenfassen lassen. Vor allem aber lernt sie, über die erfahrene Gewalt zu sprechen und ihre jahrelange Sprachlosigkeit zu überwinden. Viele Symptome ihrer Erkrankung verschwinden während der Therapie. Doch es ist ein langer Weg, bis Kathi aufhört, die erfahrene Gewalt zu bagatellisieren und den Vater ihrer Kinder zu entschuldigen. Neben ihrer Therapeutin ist es vor allem der neue Mann in ihrem Leben, der sie stützt, loyal für sie einsteht und die Dinge beim Namen nennt.

Angezeigt hat sie den Täter bis heute nicht. Zu lange hat sie über Erlebtes geschwiegen. Zu groß war die Sorge, ihr würde niemand glauben. Und auch die Angst davor, all das Erlebte vor einem Richter oder Gutachter wieder auspacken zu müssen.

Kathi schaut nach vorn. Sie gründet mit ihrem neuen Mann eine Familie. Es ist ein Gemisch aus Aufarbeitung und Verdrängung, mit dem Kathi heute ein gutes Leben führt.

 

Ein neues Leben

 

Ein glückliches und zufriedenes Leben. Ein Leben ohne Angst. Heute ist „alles gut“. In Anführungszeichen. Weil eben doch vieles nicht mehr so sein kann, wie es mal war. Immer noch gibt es Momente, in denen Ängste aufblitzen. Sequenzen im Fernsehen, die Kathi nicht erträgt. Konflikte klärt sie heute am liebsten in Schriftform. Weil sie direkte Auseinandersetzungen bis heute ängstigen.

Kathis Hals darf bis heute niemand berühren, selbst die Kinder nicht! Es ist ein Fleck ihres Körpers, der all den Schmerz und die Angst gespeichert zu haben scheint. Und auch, wenn der Schrecken von damals immer seltener zu spüren ist: er wird immer ein Teil ihrer Geschichte bleiben.

Heute stimmt Kathi den Worten ihrer Therapeutin zu, „häusliche Gewalt“ sein ein verniedlichender Ausdruck. „Mein Exmann hat versucht, mich zu erwürgen und die Kinder sahen zu“, sagt sie heute, wenn sie über Erlebtes spricht. Weil die Dinge auf den Punkt gebracht werden müssen.

Aber sie spricht selten über all das, was ihr in ihrer ersten Ehe widerfahren ist. Weil Gewalt in der Ehe immer noch ein Tabuthema ist. Und viel zu viele Leute immer noch der Überzeugung sind, die Frau sei selbst schuld.

Kathi schweigt auch, weil die Frage, warum sie viel zu lange bei einem gewalttätigen Mann geblieben ist, rational so schwer zu verstehen ist. Und das Gemisch aus Scham und Schuld immer noch auf ihr lastet.

Trotz allem erzähle ich heute die Geschichte von Kathi. Öffentlich. Weil sie exemplarisch ist. Und Schweigen eben auch keine Lösung.

Jede vierte Frau zwischen 16 und 84 erlebt mindestens ein mal im Leben eine Form häuslicher Gewalt, Tendenz steigend (im vergangenen Jahr um 5,5%!). Kathi könnte auch einen anderen Namen tragen.

Auch meinen.

Gewalt gegen Frauen funktioniert so lange, wie andere wegsehen. Täter fühlen sich so lange sicher (und auch im Recht!), so lange häusliche Gewalt etwas ist, worüber wir alle lieber schweigen als reden. So lange wir geneigt sind wegzuschauen und unsere Nase nicht in Dinge zu stecken, die uns nichts angehen, wird alles beim alten bleiben. Und Gewalt gegen Frauen etwas Alltägliches sein, das jeder vierten Frau unabhängig von Bildungsstand oder Einkommen wiederfährt.

Ändern wir das!

Schauen wir hin und reden. Reichen wir anderen Frauen die Hand und springen auch über unseren eigenen Schatten – um auch unsere eigenen Geschichten zu erzählen.

So wie ich heute. Es fällt mir nicht leicht. Aber ich habe die Hoffnung jemanden zu erreichen, der vielleicht merkt, nicht alleine zu sein. Der sieht, dass es einen Weg hinaus gibt aus der Spirale häuslicher Gewalt. Und sich traut, einen ersten Schritt zu gehen.

Ich hoffe Menschen zu erreichen, die bereit sind, fortan nicht mehr wegzusehen. Die Sprachrohr sind. Sich der Aktion #schweigenbrechen anlässlich des heutigen internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen anschließen. Diesen oder einen anderen Artikel zum Thema teilen. Oder die unten genannte Notrufnummer.

08000 116 016

 

Lasst uns also das Schweigen brechen.

Reden wir!

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