Erziehung? Nein, danke!

 

Es ist noch gar nicht lange her, da bin ich auf Instagram gepflegt explodiert. Das ganze Rumgezupfe am eigenen Körper. Die Totaloptimiertheit. Das Makellose als Endziel. All das hat mich plötzlich ganz fürchterlich geärgert. All die Postings, die mir einreden, ich müsste schöner sein oder besser, glatter, makelloser oder einfach anders. Ich konnte es nicht mehr sehen.

„Ich bin nicht perfekt!“, schrieb ich. „Ich habe vier Kinder geboren , das sieht man. Darf man auch. Meine Nase ist groß und meine Büste klein. Meine Augenringe hängen gefühlt in den Kniekehlen und die Augenbrauen sahen auch schon mal sortierter aus. Realistisch betrachtet bin ich aber froh, wenn ich es mal alleine aufs Klo schaffe.

Ich habe noch nie im Leben eine Diät gemacht und auch nicht vor, damit anzufangen. Sport mache ich ohne Hintergedanken. Einfach nur, weil mir das Spaß macht.
Ich mag so bleiben, wie ich bin. Ich brauche weder Wraps noch Detoxdiäten, Sportprogramme oder Fitnesschallenges. Ich will kein Yoga machen und mich auch nicht besser schminken. Schon gar nicht brauche ich irgendwelche Tipps, wie ich meine weibliche Seite betone. Oder die Göttin in mir hervorbringe. Den Chef verführe. Oder die richtige Rocklänge finde.

Sobald ich aber die Nase aus meiner kleinen, schnuckeligen Welt stecke (sei es in Frauenzeitschriften oder im Internet), bekomme ich ungefragt Tipps und Ratschläge zur Totaloptimierung. Damit ich eine bessere Frau werde. Makelloser und schöner, gelassener und multitaskingfähiger. Empathisch, selbstbewusst und bis zum kleinen Zeh verführerisch.
Leute, ich bin die falsche Zielgruppe. Ich mag mich nicht optimieren lassen. Ich bin erwachsen.
Meistens mag ich mich sogar. So, wie ich bin. Und wenn das mal nicht der Fall ist, helfen mir auch keine Bodywraps mehr weiter.“

 

Zustimmung im virtuellen Raum. Kollektives Nicken (Randnotiz: nur ein paar männliche Follower haben panikartig die Flucht ergriffen. Kann ich auch mit leben. Erst recht, wenn der eigene Bartträger meinen Beitrag auf Instagram kommentiert und sagt, ich soll bitte einfach so bleiben, wie ich bin).
Vollstes Verständnis dafür, dass ich nicht dazu da bin, die Erwartungen der anderen an mich zu erfüllen. Perfekt? Angenehm? Einfach schön? Ich bin ich. Und eben viel mehr als das, was andere in mir sehen wollen.

 

Auch, wenn wir das vielleicht nicht alle leben. Zumindest in unseren Köpfen wissen wir, dass wir – rein theoretisch zumindest – NEIN zu all den verkorksten Idealen und Rollenklischees sagen könnten. Und einfach wir selbst sein. Wir wissen, dass wir – wieder natürlich rein hypothetisch – einfach machen und sein können, wer und was wir sein wollen. Dass wir laut sein können oder leise, ständig im Mittelpunkt stehend oder zurückhaltend. Glattrasiert, stoppelig oder behaart. Wir dürfen Männer lieben oder Frauen. Bücher oder Computerspiele. Wir dürfen uns langweilen, Abenteuer erleben und uns unsere Freunde selbst aussuchen. Vor allem aber haben wir das Recht, unsere Integrität zu verteidigen. Keiner soll uns verbiegen oder uns sagen, dass wir falsch sind.

(dass es trotzdem immer wieder Menschen gibt, die das tun, ist ein andere Thema.)

 

Ganz anders unsere Kinder.

 

Bei Kindern hat das Herumzupfen und Zurechtbiegen System. Kinder meinen wir, ändern zu können – damit sie irgendwann in die Schablonen passen, die wir für angemessen halten. Und dem Bild entsprechen, was wir vom „idealen Kind“ in unseren Köpfen tragen.
Und nein, um diese Diskussion vorwegzunehmen: ich spreche nicht davon, dass einem die Kinder auf dem Tisch tanzen oder die Wände beschmieren, den Hund malträtieren oder uns dauerhaft „auf der Nase herumtanzen“ dürfen.
Das, was ich meine, geht über die Regeln des Zusammenlebens und der persönlichen Grenzen deutlich hinaus.

 

Es ist eine Frage der inneren Haltung.

 

Wir betrachten das Recht, wir selbst zu sein, als ein Grundrecht. Und TROTZDEM glauben wir, die Menschen, die wir am meisten lieben, davon abhalten zu müssen, sie selbst zu sein.

 

Ein Perspektivwechsel

 

Stellt euch mal vor, der Bartträger würde mir sagen, ich solle mich fortan „ordentlich“ anziehen (und damit gebügelte Blusen oder Hippieröcke meinen. Lackleder- oder Bundfaltenhosen. Faltenröcke oder Hotpants. Völlig egal), weil er sonst mit mir nicht mehr aus dem Haus geht. Und die Beine rasieren. Stoppelfrei. Weils eine Zumutung ist, mich so ungepflegt zu ertragen. Und überhaupt: ich soll doch endlich mal lernen, draußen nicht immer so laut zu reden. Weils peinlich ist. Und mich aus politischen Diskussionen raushalten, weil ich acht Jahre jünger bin als er und damit sowieso per Definition keine Ahnung habe.
Das wäre ein Fall für eine Blitzscheidung. Und wohl JEDER hätte vollstes Verständnis dafür, wenn ich dem Bartträger verbal eine aufs Maul gebe und verlange, dass er bitte ordentlich mit mir spricht. Und checkt, dass ich ein eigenständiger Mensch bin und keine Modepuppe.

 

 

Nicht umsonst spricht man zwischen Erwachsenen von einer Beziehung. Da spielen Achtung und Respekt eine Rolle, eine gewisse Zugewandtheit und Einfühlungsvermögen.

Bei Kindern dagegen sprechen wir von Erziehung. Ganz andere Baustelle. Völlig andere Regeln. Konsequenz ist eine davon und auch Durchsetzungsfähigkeit. Grenzen setzen und auch mal hart sein können. Schließlich leben wir nicht im Ponyhof.
Und so bekommt unser Nachwuchs dann den lieben langen Tag gesagt, was er zu tun oder zu lassen hat. Wer und vor allem wie er zu sein hat. Und wie nicht. Mit wem er sich wann treffen darf. Dass man „ich hätte gerne“ oder „darf ich bitte“ sagt, und nicht „ich will“. Und natürlich auch, wie das Zauberwort heißt.
Unsere Kinder sollen lernen, was sie in welcher Situation zu sagen haben und – ganz wichtig – wann sie lieber ihren Mund halten. Wir bringen ihnen bei, wie laut Freude sein darf und wie wenig hörbar Frust. Wie sich ein „gutes“ Kind verhält und wie ein „böses“.
Erziehung nennt man das. Das klingt gut und richtig. Vor allem klingt es wichtig und unabänderlich.
Erziehung ist dazu da, um aus unfertigen, kleinen Kindern, angenehme und sozialkompatible Erwachsene zu machen. Erziehung hat ein Ziel. Und dient dem Kind. Zugegeben: das macht oft keinen Spaß – vor allem den Kindern. Aber was sein muss, muss sein. Und irgendwann werden sie es uns schon danken.

 

So denken wir doch – irgendwie, insgeheim, mehr oder weniger offen. Und erziehen nach Kräften. Damit der Nachwuchs einmal so wird, wie wir ihn gerne haben wollen.

Perfekt. Angenehm. Einfach schön!

Merkt ihr was?
Eben.

Letztens las ich irgendwo auf Instagram Werbung für einen Erziehungsratgeber. Für Kinder. Hätte aber auch ein Ratgeber für Hundeerziehung sein können. Die Unterschiede sind minimal. Klassische Konditionierung: positives Verhalten wird belohnt (Qualitytime, Computerspielen, Süßigkeiten oder Sticker), negatives Verhalten sanktioniert (Fernsehverbot).

Eltern richtig erziehen. Besser kann man sich kaum einen Spiegel vorhalten.

So läuft Erziehung Zweitausendsiebzehn. Und dafür machen Menschen Werbung. Echt jetzt!

Was wir dabei völlig vergessen: auch Kinder sind Menschen. Auch Kinder haben ein Recht darauf, „sie selbst“ zu sein. Facettenreich, mit angenehmen und weniger angenehmen Seiten. Laut oder leise. Schüchtern oder im Mittelpunkt stehend. „Gute“ oder „schlechte“ Freunde habend. Mit guten und weniger guten Tagen.

Kinder wollen heranwachsen können, ohne dass ständig jemand an ihnen herumzupft. Sie wollen Fehler machen dürfen. Und Erwachsene an ihrer Seite haben, die ihnen Orientierung bieten, statt sie bloßzustellen. Die zuhören und annehmen, statt in Dauerschleife zu kritisieren. Die akzeptieren, dass Kinder eigene Wege gehen, statt sie in Schablonen zu pressen.

Manch einen mag das schockieren, aber:

Kinder brauchen keine Erziehung.

 

Kinder brauchen liebevolle Menschen. Die ihre eigenen Grenzen wahren und Vorbild sind. Die empathisch sind und souverän. Fehler machen und sich entschuldigen können. Kinder brauchen gleichwürdige Begegnung mit Erwachsenen, die bereit sind, liebevoll eine Führung zu übernehmen (weil sie eben doch einen Tacken mehr Lebenserfahrung haben und Weitsicht) und Verantwortung zu übernehmen. Für den Ton im Miteinander. Oder die Qualität der Beziehung.

Mit Kindern ist es wie mit zarten Pflänzchen: sie brauchen Pflege und Schutz. Sie brauchen jemanden, der dafür Sorge trägt, dass es ihnen an nichts mangelt. Der seine schützende Hand über sie hält und sie stark macht, für das Leben „da draußen“ mit all seinen Gefahren und Herausforderungen – und niemanden, der sie zurechtbiegt und auf die richtige Größe stutzt, damit sie besonders ertragreich werden oder anderen Zielen besser entsprechen.

Auch, wenn das kein einfacher Weg ist. Auch, wenn dressierte Kinder mitunter einfacher zu händeln sind. Auch, wenn die Muster unserer eigenen Erziehung vor allem in Krisensituationen immer wieder Oberhand gewinnen: Wir sollten zumindest versuchen, unseren Kindern solch ein Mensch zu sein.

***

Und für alle, die mit einem Augenzwinkern auf das Erziehungsthema schauen mögen, hier noch eine Buchvorstellung:

Das Buch „Eltern richtig erziehen“ von Katharina Grossmann-Hensel  dreht den Spieß in Sachen Erziehung um. Ein Ratgeber für elterngeplagte Sprösslinge und beste Anleitung dafür, wie man schon im Babyalter seine Eltern in den Griff bekommt und im Handumdrehen wohlerzogene, angepasste Eltern hat. Ein wundersam ironisches Bilderbuch, das unterhaltsam und prägnant die Absurdität von Erziehung illustriert. Ein absolut witziges und kluges Buch mit einem Augen öffnenden Perspektivwechsel. Lesenswert, nicht nur für Kinder!

Eltern richtig erziehen

Katharina Grossmann-Hensel
Annette Betz Verlg
ISBN: 978-3219116700
für Kinder ab vier

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