Scheitern dürfen!

Mit dem Laufrad die Rampe hinauf: DIE Herausforderung schlechthin!

 

Sommer 2016. Mein Zweieinhalbjähriger steht während unserer Hunderunde mit seinem Laufrad an einer Rampe im Park. Er versucht, dort hinauf zu fahren. Jeden Tag tut er das. Mindestens ein mal.

Jeden Tag scheitert er. Jedes mal versucht er es aufs neue. Jedes mal kommt er an dem Punkt, an dem er merkt: das wird nix und er mich bittet, das Laufrad für ihn nach oben zu bringen.

Natürlich könnte ich das Ganze abkürzen Es würde Zeit sparen. Mitunter versucht der Kleinkindmensch zehn Minuten, nach oben zu kommen. Erfolglose zehn Minuten, die ich neben ihm stehe und versucht bin, ihm das Rad aus der Hand zu nehmen und hochzutragen. Weil es für mich kaum Mehraufwand bedeutet (gar keinen, um ehrlich zu sein. Ich trage es ja so oder so hinauf). Und ich dem Kerl helfen könnte. Ihm das tägliche Scheitern ersparen. Mit einem Handgriff.

Mit dem Laufrad die Rampe hinauf: DIE Herausforderung schlechthin!

Ein anderer Ort, das selbe Thema: mein Einjähriger versucht, die neue Rutsche im Wohnzimmer zu erklimmen. Es gelingt ihm nicht. Immer und immer wieder versucht er, mit seinen Füßen Halt zu finden und sich nach oben zu ziehen. Auch hier stehe ich daneben und möchte so gerne helfen. Ich könnte den Kleinen einfach hoch auf die Rutsche setzen – und ihm das Rutschen ermöglichen.

Ich tue es nicht. In beiden Fällen. Nicht nur, weil das einen Wutanfall nach sich ziehen würde, der sich gewaschen hat. Die Kinder möchten nämlich herausfinden, ob und was im Bereich ihrer Möglichkeiten liegt. Dass sie dabei scheitern, juckt sie nicht wirklich. Offenbar ist der Weg schon ihr Ziel. Und auch nicht nur deswegen, weil ich es gerade beim Klettern für absolut wichtig halte, dass Kinder den Weg nach oben alleine finden – um ein Gefühl für die Höhe und ein Gefahrenbewusstsein zu entwickeln.

Sondern auch, weil ich Scheitern für etwas Wichtiges halte. Leben bedeutet eben nicht nur Lernen und zu Lachen, sondern auch Scheitern. Nicht jede Enttäuschung muss vermieden werden. Kinder können auch an Krisen wachsen – zumal dann, wenn es jemanden gibt, der das Ganze liebevoll begleitet.

 

Scheitern als Chance

 

Irgendwann ist es dann so weit: das hartnäckige Üben hat sich gelohnt. Der Kleinkindmensch fährt die Rampe hinauf. Noch etwas ungelenk und wackelig, aber mit jedem Tag sicherer und vor allem schneller. Als ich ihm das erste mal nach seiner geglückten Fahrt ins Gesicht schaue, weiß ich: es war gut und richtig ihn machen zu lassen.

Auch unser Kleinster hat irgendwann den Bogen raus und klettert auf die Rutsche. Auch den Weg hinunter muss er finden. Liebevoll begleitet, im Zweifelsfall von uns aufgefangen, aber eben doch alleine.

Ich blicke in die stolzen Augen meiner Kinder. Augen, die davon erzählen, wie hart erarbeitet diese Fahrt, wie verdient dieser Triumpf ist. Blicke, die mir erzählen: „ich habe mich gerade selbst überwunden, das Unmögliche geschafft.“

Mir fällt kein wirklicher Grund ein, warum ich das hätte abkürzen sollen. Aber ein schwerwiegender dagegen: mein Einmischen hätte meine Söhne um eine wichtige Erfahrung gebracht: dass Scheitern nicht das Ende ist. Sondern einfach nur der Anfang eines neuen Versuches.

Es gibt so viele Möglichkeiten, in denen Kinder herausfinden können, was sie schon können – wenn wir sie lassen.

Schon das Erklimmen eines Wäschekorbes: ein Erlebnis!

 

Ich erinnere mich gut an den Nachmittag, an dem der Bartträger den Erstklässler bat, eine falsch gekaufte Kuchenform zum Geschäft zurück zu bringen. Mit dem Kassenzettel und der Form in der Hand, stand er da und überlegte laut: „Ich weiß gar nicht, ob ich das kann!“ „Versuch es einfach“, riet der Bartträger ihm. „Wenn es nicht klappt, kommst du einfach wieder heim.“

Ein Versuch mit doppeltem Boden. Und ein Szenario, in dem die Welt nicht untergeht, wenn das Kind scheitert. Ein perfektes Übungsfeld also. Wenige Minuten später kam ein strahlender Erstklässler heim: ohne Kuchenform und mit Geld in der Hand. „Ich kann fast alles“ sagte er folgerichtig mit stolz geschwellter Brust.

Egal, ob es um einen Umtausch geht, das Klettern oder Laufradfahren, die Frage, ob und wann auf dem Spielplatz die Rutsche erklommen oder die erste Bratwurst kleingeschnitten werden kann: Wenn wir unsere Kinder machen lassen, besteht immer die Möglichkeit, dass es auch mal nicht klappt. Dass die Rutsche doch noch ein Stück zu hoch oder der Mut zu klein, das Messer rutschig oder die Verkäuferin unfreundlich ist. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass es meine Kinder niemals juckt, ob etwas auf Anhieb klappt, oder nicht.

 

Scheitern um jeden Preis?

 

Es gibt so viele Argumente dafür, den Kindern diese Erfahrung zu ersparen. Ihnen zu helfen. Ihnen das abzunehmen, was sie versuchen, aber noch nicht können. Manchmal macht es Sinn zu helfen: wenn es gefährlich wird zum Beispiel. Oder es nur noch einen klitzekleinen Fingerzeigt braucht, bis das Vorhaben klappt (bei unserem Einjährigen half es beispielsweise, seinen Fuß kurz zur nächsten Stufe der Treppe zu führen). Oder die Verfassung des Kindes (oder der Eltern) keine weiteren Dramen zulässt. Es gibt Tage, die sind schon Herausforderung genug.

Die meisten Gründe aber sind vorgeschoben. Weil wir Mütter es nicht aushalten, die Kinder scheitern zu sehen. Weil wir ihre Gefühle nicht aushalten wollen. Weil Scheitern einfach unpopulär ist und strahlende Kinder viel angenehmer. Weil wir unserem Nachwuchs die Erfahrung ersparen zu wollen, zu versagen. Und weil wir selbst nur zu gut wissen, wie es sich anfühlen kann.

Ja, KANN.

Denn, und das ist eine wirklich überraschende Einsicht für mich: scheitern ist nicht gleich scheitern. Gerade Kinder, die Erfahrungen machen dürfen – positive wie negative – können gut damit umgehen, auch einmal etwas nicht zu schaffen.

Ich kann das selbst! Scheitern zu dürfen bedeutet auch, an Herausforderungen zu wachsen.

Es ist eine Frage der Perspektive.

Wenn wir Scheitern nicht als Makel und Endstation begreifen, sondern als die Zwischenstation eines Übungsfeldes, können wir daran wachsen und lernen:

 

Hinfallen, trauern und wieder aufstehen.

 

Gerade einer Welt, in der selbst Grundschüler unter einem enormen Leistungsdruck zu stehen scheinen und das Scheitern (ob in der Schule, im Sport oder dem Zwischenmenschlichen) offenbar ein worst case Szenario darstellt, ist es wichtig, scheitern zu dürfen. Sich selbst ausprobieren zu dürfen. Wertfrei. Ohne Erfolgsdruck. Zu spüren, dass manche Dinge eben etwas länger brauchen.

Den Erfolg, das erste mal selbständig eine Rutsche erklettert zu haben, auch wirklich auskosten zu können. Und zu wissen, dass im Zweifelsfall eben doch meistens ein doppelter Boden da ist. Eltern, die einen auffangen und begleiten. Oder, wenns dann doch mal wirklich wichtig ist oder Hilfe ausdrücklich gewünscht wird, einspringen und helfen.

Wir müssen unsere Kinder nicht um des Scheiterns Willen scheitern lassen. Aber wir sollten die Bandbreite der Erfahrungen, die unsere Kinder machen, nicht von Vornherein beschneiden. Weil eben beides zum Leben dazu gehört: das Scheitern und das Meistern. Und das Glück, hinunterrutschen zu können, mitunter auch damit zusammenhängt, den anstrengenden Weg hinauf selbst bewältigt zu haben.

 

***

Hat dir mein Artikel gefallen? Dann freue ich mich über ein „gefällt mir“ und über das Weiterteilen. Wenn du regelmäßig auch meine nächsten Artikel lesen magst, folge diesem Blog oder klicke „gefällt mir“ auf der Kakaoschnuten-Facebookseite

 

Merken

Merken

Merken

Merken

Merken

Merken

3 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*