Fürsorge oder Bevormundung?

 

Es ist Samstagabend. Die Kinder sitzen mit dem Bartträger vor dem Fernseher und schauen einen Zeichentrickfilm. Ich versuche am Computer einen Blogartikel über Eigenverantwortung zu schreiben, als mein Sechsjähriger zu mir kommt.

„Mama, bringst du mich bitte ins Bett? Der Film ist total toll und spannend. Aber ich bin müde und möchte jetzt gerne schlafen gehen.“

Da wären wir ja direkt beim Thema.

Nachdem ich meinen Sohn ins Bett gebracht habe, komme ich ins Nachdenken. Erzähle ich anderen Müttern davon, dass meine Kinder freiwillig einen Film oder gar ein Fußballspiel während der EM unterbrechen um schlafen zu gehen, vorzeitig ein Computerspiel abbrechen, weil sie „genug“ haben oder mich um einen Obstteller bitten, weil sie „etwas Frisches“ essen wollen, blicke ich immer in ganz erstaunte Gesichter.
„Wie machst du das?“, werde ich oft schon fast bewundernd gefragt.

Irritierenderweise sind es oft die selben Frauen, die mich belächeln, wenn mein Baby das dritte mal in einer Stunde gestillt und nahezu ständig getragen wird. Oder die mich für eine Komplettversagerin halten, weil ich es meinem Zweijährigen erlaube, sich die Socken auszuziehen und auch im Winter barfuß durchs Haus zu laufen.

Dabei dreht es sich in beiden Fällen um das selbe Thema: Eigenverantwortung!

Von Anfang an kompetent

Schon vom ersten Atemzug an haben unsere Kinder ein Gespür für ihre Grundbedürfnisse. Sie wissen, wann sie hungrig sind oder müde, wann sie mit uns in Beziehung treten oder unsere Nähe spüren wollen. Schon kleine Babys signalisieren, wenn sie sich unwohl fühlen. Es ist an uns, das zu erkennen, die Bedürfnisse unserer Kinder ernst zu nehmen und auf sie einzugehen.

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Stattdessen aber versuchen wir, schon kleine Babys zu erziehen. Wir stillen sie in einem Vierstundenrhythmus, dessen Ziel es ist, uns geregelte „Arbeitszeiten“ zu schaffen. Möglichst früh und konsequent versuchen wir, dem Bedürfnis nach Nähe entgegenzuwirken und unseren Kindern beizubringen, alleine in einem Bett (durch) zu schlafen. Unser Nachwuchs trägt Kleidung, die wir für angemessen halten – völlig unabhängig davon, ob sie seinem persönlichen Wärmebedürfnis entspricht. Später dann lernen unsere Kinder, Nahrungsmittel auch dann zu essen, wenn sie nicht lecker schmecken und den Teller zu leeren, selbst wenn der eigene Hunger bereits gestillt ist.

So bringen wir Kindern bei, ihr Hungergefühl zu übergehen („du hattest erst vor zwei Stunden was, warte also!“) und ihr Sättigungsgefühl zu missachten („du isst den Teller leer!“), ihrem Geschmacksempfinden zu misstrauen („doch, der Spinat schmeckt lecker. Wenn ichs doch sage!“) und gewöhnen sie daran, die eigene Integrität verletzen zu lassen („du isst das. JETZT!“). Wir lehren sie, ihren eigenen Schlaf / Wachrhythmus aufzugeben („doch, du bist müde. Es ist schon sieben Uhr!“) und ihrem Wärmeempfinden zu misstrauen („ich friere – also zieh dir eine Mütze auf!“).

Und dann wundern wir uns ehrlich, dass unsere Kinder später keine Verantwortung mehr für die Grundbedürfnisse ihres Körpers übernehmen können oder wollen???

Dabei könnte es so einfach sein.

Wenn das Kind satt ist, ist es satt. Wenn es müde ist, dann schläft es. Und wenn es keine Möhren mag, dann isst es eben Paprika oder Gurken. So what?

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Kinder eigenverantwortlich handeln zu lassen, ist kein Modetrend. Es bedeutet auch nicht, fortan „ja“ zu allen Wünschen der Kinder sagen zu müssen. Wir müssen auch nicht täglich das Lieblingsessen unserer Kinder kochen oder nur noch lila Glitzerkleider kaufen.

Was wir aber unbedingt tun sollen: die Grundbedürfnisse und Grenzen unserer Kinder respektieren! Das ist elementar wichtig für ein gesundes Aufwachsen. Die Grenze zwischen Fürsorge und Bevormundung liegt genau da, wo wir nicht bereit sind, die Bedürfnisse unserer Kinder zu sehen oder wir ihre persönlichen Grenzen übertreten.

Es gibt keine Alternativen

Wollen wir wirklich bis zur Volljährigkeit unserer Kinder entscheiden, was und wie viel diese essen oder wann sie schlafen sollen? Einmal abgesehen davon, dass wir unseren Kindern damit sowieso keinen Gefallen tun (an dieser Stelle ganz deutlich: nein, wir wissen nicht besser als unsere Kinder, was diese riechen, schmecken oder fühlen!!!) – irgendwann kommt doch zwangsläufig der Punkt, an dem unsere Kinder eigenständig Verantwortung für sich und ihr Leben übernehmen müssen.

Selbstfürsorge und Eigenverantwortung sind nichts, was am Ende der Pubertät vom Himmel fällt. Kinder brauchen über Jahre hinweg die Möglichkeit, diese Fähigkeiten zu trainieren – um schrittweise in immer mehr Bereichen ihres Lebens eigenverantwortlich handeln zu können.

Wer von Anfang an in seinen Bedürfnissen wahr und ernst genommen wird, wird zuverlässig lernen, selbst für deren Erfüllung einzustehen.

Wer merkt, dass die eigenen Körpersignale wahrgenommen werden, wird lernen, auch selbst auf den eigenen Körper zu hören.

Wer mit der Grunderfahrung aufwächst, von den Eltern als eigenständige Person wahrgenommen und respektiert zu werden, wird auch sich selbst die nötige Achtung entgegen bringen.

Warum wagen wir es nicht einfach, unsere Kinder diesen Schritt hin zur Eigenständigkeit gehen zu lassen? Warum trauen wir ihnen nicht zu, für die eigenen Bedürfnisse einstehen zu können? Und was gibt uns das Recht zu glauben, besser als unsere Kinder zu wissen, was für sie gut oder richtg ist?

Unsere Kinder können nur gewinnen, wenn wir ihnen die Selbstbestimmung über ihren Körper zugestehen und sie darin unterstützen, immer mehr Eigenverantwortung für die eigenen Bedürfnisse zu übernehmen.

Und wir – was können wir schon schon dabei verlieren?

 

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